Mitten im Atlantik liegt die Azoreninsel São Miguel, 1.400km vor dem Festland. Drumherum erblickt das Auge nichts als Wasser und Wellenkronen. Außer, wenn die winzige Schwesterninsel Santa Maria am südlichen Horizont aus dem Meeresdunst auftaucht – vor Schlechtwettertagen, wie die Bewohner von São Miguel sagen. Für unsere Flitterwochen war das recht einsame Wander-Wunderland im rauen Atlantik genau die richtige Wahl. Wir haben dort dampfende Fumarole und blubbernde Schlammtöpfe bewundert, unter einem warmen Wasserfall gebadet und waren Schnorcheln, wo Unterseevulkane den kalten Ozean auf Badewannentemperatur erhitzen. Natürlich durfte auch eine ausgiebige Wanderung in den Kraterlandschaften von Sete Cidades nicht fehlen, die zu Portugals sieben Naturwundern zählen. In meinem Reisebericht nehme ich euch mit auf eben diese Wanderung.
Königliche Ausblicke und kulturelle Einblicke am Miradouro da Vista do Rei
Eigentlich hatten wir entschieden, heute den Krater der Sete Cidades („Sieben Städte“) auf seinem Rand zu umrunden. Vergleichsweise bequeme fünfeinhalb Stunden sind für die Tour veranschlagt. Beim Start wissen wir noch nicht, dass unsere eigene Schusseligkeit uns später vom geplanten Weg abbringen soll.
Wir stellen den kleinen Mietwagen – ohne Auto seid ihr auf São Miguel ziemlich aufgeschmissen – am südlichen Rand des Kraters auf dem Parkplatz des Aussichtspunktes Miradouro da Vista do Rei ab. Es ist relativ ruhig hier im Vergleich zu anderen Startpunkten für Wanderungen, die ich kenne. Derzeit wächst das touristische Interesse an den portugiesischen Vulkaninselchen und wer weiß, vielleicht sieht es in einigen Jahren hier ganz anders aus. Uns sind bislang vor allem Stop-Over-Reisende aufgefallen, die mit Touristentaxis in wenigen Stunden die populärsten Aussichtspunkte der Insel abklappern – und dabei so viel Schönes verpassen.
Der Miradouro da Vista do Rei, der „Königsblick“, an dem wir unseren Wandertag beginnen, ist wohl der bekannteste Aussichtspunkt des ganzen Azoren-Archipels und sein Panorama das meistgewählte Motiv für Reiseführer und Reportagen über São Miguel. Von hier schweift der Blick den von Hortensien und Ingwerblüten buntgetupften Hang hinunter und über die Wipfel wuscheliger Sicheltannen hinweg zu den Kraterseen Lagoa Verde und Lagoa Azul, die bis an die 5km entfernte Nordwand reichen. Ihren Namen, „Grüner See“ und „Blauer See“ machen die beiden Gewässer alle Ehre, was umso faszinierender scheint, da sie sich unter der rund 100m langen Steinbogenbrücke Ponte dos Regos treffen. Westlich schmiegen sich die hellen Häuschen von Sete Cidades an die Hänge zweier kleinerer Kraterkessel, im Osten verdecken Bergflanken den Blick in die höher gelegenen Vulkanseen Lagoa de Santiago und Lagoa Rasa.
Neben der Aussicht begeistern uns auch die Informationstafeln am Miradouro da Vista do Rei. Statt nüchterner Schilder und Umgebungskarten erklärt portugiesische Azulejo-Kunst die Landschaft: Filigran von Hand bemalte und beschriftete Fliesentafeln geben Auskunft über Angelmöglichkeiten im Kraterkessel; und ein Landschaftsgemälde – inklusive Hortensienblüten im Vordergrund – weist die wichtigsten Punkte der Umgebung aus.
Unterwegs auf dem Kraterrand der Caldeira des Sete Cidades
Wir verlassen wenige Meter vom Miradouro da Vista do Rei entfernt die asphaltierte Straße und schlagen uns Richtung Nordwesten auf den Wirtschaftsweg, der sich fast um den ganzen Talkessel herumzieht. Der Himmel klart immer weiter auf und beschert uns T-Shirt-Wetter Mitte September. Zur Linken eröffnet die Landschaft immer wieder Aussichten auf den nahen Küstensaum, zur Rechten wechseln die Perspektiven des Kratertals mit seinem Mosaik aus bunten Feldern, heckenumsäumten Weiden und dichtbewaldeten Anhöhen.
Erst Mitte des 15. Jahrhunderts soll der Vulkankessel entstanden sein. Berichten des portugiesischen Mönchs und Seefahrers Gonçalo Velho Cabral zufolge, begrüßten ihn auf seiner Segelexkursion im Jahre 1444 statt der Landmarke des vormals etwa 1.200m hohen Inselvulkans nur Ascheregen, Glutwolken und Unmengen Treibholz auf dem Meer. Eine gewaltige Eruption, die viele der ersten Siedler auf São Miguel das Leben gekostet haben dürfte, ließ die heute so idyllische Landschaft entstehen.
Friedlich grasen im 300m tiefen Tal die Kühe, die von unserem Wanderweg aus ameisengroß und nur durch ihre schwarz-weiße Färbung als solche zu erkennen sind. Nah am Fuße der Kraterwand, weit abgelegen von den Häusern von Sete Cidades, fällt ein mit einem weißen Mäuerchen eingefasster Friedhof ins Auge, klein, quadratisch und durch ein einziges Wegekreuz in symmetrische Viertel geteilt, in denen in Zwölferreihen weiße Grabkreuze stehen. Ein anderes Zeugnis der Vergänglichkeit entdecken wir direkt am Wegesrand, wo die Überreste eines Autowracks in einem kleinen Hügel stecken. Während von der teils weggerosteten, teils von der Wiese verschlungen Karosserie gerade noch das Bodenblech und eine der Scheinwerferfassungen zu erkennen sind, sieht der Schaltknüppel aus Kunststoff noch geradezu tipptopp aus. Kurios erscheint das Ganze, als wir wenige 100m weiter ein zweites Autowrack in ähnlichem Zerfallsstadium finden.
Bizarre Felsformationen und Exemplare der Erica azorica, einer nur auf den Azoren vorkommenden Baumheide, säumen unseren Weg, dazu natürlich der allgegenwärtige wilde Ingwer, der mit seinen mehr als kopfgroßen gelben Blüten zwar das Auge erfreut, als eingeschleppte und sehr verbreitungsfreudige Pflanze allerdings auch die heimische Flora bedroht. Die Ausblicke zur West- und Nordwestküste hin schenken uns indes märchenhafte Hügellandschaften mit geschwungenen Hortensienhecken zwischen grünen Vulkankegeln – und die wohlig-schaurige Gewissheit, mitten im Ozean und weit weg von fast allem zu sein.
Nach dem Leuchtturm von Ponta da Ferraria rücken bald die Ilhéus dos Mosteiros ins Blickfeld, eine kleine Gruppe charakteristisch geformter Felsobelisken, die direkt vor der Küste aus dem Meer ragen. Im Örtchen Mosteiros gibt es einen der wenigen Sandstrände der Insel. Wenn der Atlantik wohlgesonnen ist, heißt er hier Surfer, Badegäste und Sonnenanbeter willkommen, doch auch sonst lohnt ein Besuch – erzeugen doch die Kulisse der Felseninseln, das türkisblaue Wasser, die weißen Wellenkronen und der tiefschwarze Vulkansand eine ganz besondere Atmosphäre. Nachdem wir selbst dort nach einer halben Stunde Rumlümmeln von einer der größeren Wellen auf dem obersten Strandteil erwischt wurden, raten wir hier auf jeden Fall zu Aufmerksamkeit, Humor oder einem Satz Wechselkleidung.
Auf schönen Umwegen: durch den Vulkankessel zurück zum „Königsblick“
Nach knapp anderthalb Stunden erreichen wir die entscheidende Weggabelung: Geradeaus geht der Weg auf dem Kraterrand weiter, rechts wartet der Abstieg ins Tal – nebst anschließendem Wiederaufstieg, den wir unseren Beinen heute eigentlich ersparen wollten. Aus irgendeinem Grund ist die Talquerung trotzdem wieder Thema und es herrscht Uneinigkeit, für welchen Weg wir uns vorab entschieden hatten. In einem, wie man so schön sagt, Anfall geistiger Umnachtung, lasse ich mich von meiner Überzeugung abbringen und wir finden uns auf dem Weg nach unten wieder. Nicht unser unerfreulichster Irrtum, wie sich später noch zeigen soll.
Bald geht es auf der asphaltierten Talstraße weiter, während um uns herum die grünen Hänge zügig höher und höher werden. Nur ab und an müssen wir die Straße für ein vorbeifahrendes Auto räumen, ansonsten können wir ungestört die Blicke in die weite Talschneise zwischen dem Rand des Sete Cidades-Kraters und den Westhängen der kleinen Caldeira Seca genießen. Eine dicke Hortensienhecke begleitet die Straße bis an den Ortsrand von Sete Cidades, und während drumherum schon viele der Blütenbälle ihr herbstliches Altrosa angenommen haben, ist im geschützten Kratertal noch alles frisch und bunt.
Am Ortseingang leuchtet uns weiß die kleine Pfarrkirche São Nicolau entgegen und wir werfen einen Blick in das heimelig schlichtgehaltene Kirchenschiff, bevor wir weitergehen. Weißverputzte zweistöckige Häuschen und buntblühende Vorgärten prägen die ruhigen Straßen von Sete Cidades. Über den meisten Haustüren sind kunstvolle Azulejos mit sakralen Malereien zu bewundern.
Am baumgespickten Wiesenufer des Lagoa Azul lassen wir uns unseren Proviant schmecken und genießen die Weite des Kraterkessels vor dem Aufstieg. Der wartet gleich hinter der Ponte dos Regos, die den Lagoa Azul vom Lagoa Verde trennt. Von der niedrigen Steinbrücke aus ist der Grund für die Grünfärbung des Lagoa Verde bestens zu erkennen: Dichte Wasserpflanzen bevölkern den gesamten See bis an die Oberfläche.
Unvermeidlich ist nun aber der Aufstieg zu meistern. Eine halbe Stunde lang geht es entlang der von Farn gesäumten Straße in steilen Serpentinen bergauf. Schon nach den ersten Minuten wird hinter mir der Vorschlag zum Trampen laut – aber so nicht! Uns die Tal-Tour erst einbrocken, und dann schummeln wollen. Etwa 300 Höhenmeter später zweigt unsere Route von der Straße in ein Wäldchen ab. Und das ist alle Mühen wert. Schon nach ein paar Schritten umfängt uns üppigste Azoren-Flora: hohe Bäume, riesige Farne und das dichte Grün des blühenden Ingwers bescheren echtes Urwald-Feeling und der dumpf federnde Waldweg ist einfach herrlich zu gehen.
Wir klettern über einen umgestürzten Baum und weichen vor einigen Pfützen in den Matsch aus. Wo der Pfad sich dem Westhang nähert, schimmert die grüne Wasserfläche des Lagoa Verde zwischen den Bäumen hindurch, bevor wir schließlich aus dem Dschungelgrün ins Freie treten. Hier überrascht uns der Weg noch mit einer Gelegenheit zum Bimssteinsammeln – ein wunderbares, kostenloses Mitbringsel, das nur ein paar Gramm mehr im Fluggepäck ausmacht. Nach der letzten Schleife hoch zum Miradouro da Vista do Rei sind wir zwar wahnwitzig genervt vom Bergauflaufen, aber glücklich über das bezaubernde Stückchen Wald, das wir nie entdeckt hätten, wären wir wie geplant dem bequemeren Weg gefolgt.